Montag, 3. März 2014

03032014 (Faschingsfreunde bitte weitergehen!)

anders als im letzten blog dachte ich neulich über das lesen nach, als ich eine randnotiz im FREITAG las, der zu folge wir neuzeitmenschen ein volk von schreibern, nicht jedoch lesern seien.
gleich hatte ich diese weibliche reklamestimme im ohr, die da mitteilte: „wir posten und twittern … alles ist ganz normal.“
wie normal jedoch ist es, wenn wir vor lauter eigener äusserungen keine zeit mehr haben, uns lesend über inhalte zu informieren, e h e wir eine meinung äussern?

nahezu umgehend bekam ich ein praktisches beispiel geliefert:
eine bekannte postete das bild eines hundes, der an einem strick hinter einem fahrzeug her geschleift wurde.
man kann sich ja seine eigenen gedanken darüber machen, wer so etwas fotografiert, statt etwas zu unternehmen.
man kann sich auch fragen, wie sinnvoll es ist, statt etwas zu unternehmen, so ein foto ins internet zu stellen mit der bitte, den fahrzeughalter (kfz-kennzeichen vergrößert auf dem foto angegeben) ausfindig und dingfest zu machen.
man kann aber auch einmal nachschauen, was das soll.
drei klicks vom eigentlich posting entfernt fand ich die übersetzung eines zeitungsartikels, in dem nicht nur dieses foto, sondern auch eines vom tierquäler in handschellen gezeigt wurde, der – wie ebenfalls zu lesen war – inzwischen rechtskräftig zu elf monaten haft auf bewährung (3 jahre) und einer zahlung von 500 euro strafe verurteilt wurde, was in bulgarien sicherlich eine menge geld ist.

im posting meiner bekannten jedoch war der eindruck geweckt worden, man wisse nicht, um wen es sich handelt und suche mit aller gemeinsamen kraft der internetgemeinde nach diesem schuft.
meine bekannte selbst zeigte sich ausnehmend betroffen.

betroffenheit geht uns heute ja allgemein sehr leicht über die lippen. alleweil sind wir über irgend etwas betroffen, was irgendwie bewirkt, dass wir uns gut fühlen, so als mensch, und uns im übrigen davon entbindet, sachliche inhalte in zusammenhänge zu setzen.

ich kann mich nicht erinnern, dass man früher, in meiner kindheit und jugend, betroffenheit so oft oder überhaupt im munde geführt hätte.
ich habe meine mutter drei mal über den tod fremder menschen weinen sehen ( Gerard Philipe, J.F.Kennedy, W.Brandt), aber da war sie nicht betroffen, sondern schlichtweg traurig.
ich erinnere lediglich lothar kusche, der in den siebziger jahren des letzten jahrhunderts einen aufsatz „über die kunst, jederzeit so betrübt zu sein“ verfasste. womit er freilich die entschuldigungsformel der engländer aufs korn nahm. die heute allgemeine betroffenheit kannte er noch nicht.
unsere allzeit bereite betroffenheit ist jedoch von ganz anderem kaliber. sie ist so hübsch bequem, weil wir uns keine mühe machen müssen. wir holen die betroffenheitsgesten (gerne auch gepaart mit bekundeter wut, die sich dann doch sehr schnell beruhigt) aus der tasche wie ein taschentuch und stecken sie nach vollbrachter bekundung genauso schnell auch wieder ein. pflicht ohne großen aufwand erfüllt.

eine geste, die wir eventuell von allerhand personen der öffentlichen wahrnehmung übernommen haben. die, so immerhin kann man ihnen zugute halten, nicht über jede gerade passierte sache bescheid wissen und sich eine meinung gebildet haben können und dennoch jederzeit damit rechnen müssen, dass man ihnen ein mikrophon vor die nase hält.
betroffen dagegen kann man immer sein.


inzwischen hat jeder passant auf der straße, der von den reportern in ermangelung von augenzeugen oder fachleuten angehalten wird, seine betroffenheit parat.
es scheint, als würden einen solche gesten davon entbinden, noch irgendwie mehr zu tun. mehr zu fühlen. zuzupacken. es scheint auch, als habe man sich darauf verständigt, dass in einer so vielfältigen, ohnehin mit worthülsen überpfropften welt, es ausreichend ist, betroffen zu sein, obwohl die meisten von den dingen, die solcherart betroffenheitsstürme auslösen, die betroffenheitsbekunder ja eben nicht betreffen, zumeist nicht einmal tangieren. was die bekundungen so einfach macht.

umso erstaunlicher ist, wie oft man in letzter zeit hört, dass menschen sich nicht interessieren, und gefragt wird, warum man sich um eine sache kümmere, die einen doch gar nicht betreffe. sollten nicht jedoch erkenntnisse über anderer menschen befindlichkeiten das tor zum mitgefühl öffnen?

als wir uns noch nicht im zeitalter der großen betroffenheit befanden, wagten wir gelegentlich, manchmal auch öfter, zuzugeben, dass wir „von dieser sache da“ keine ahnung haben, was uns, die wir ja nicht alles wissen konnten, von einer meinungsäusserung entband. man mochte uns für dumm, uninformiert oder desinteressiert halten, aber wenigstens waren wir ehrlich. denn wir lebten noch nicht im informationszeitalter, wo imgrunde jeder alles wissen kann, wenn er denn nur will und halbwegs verständig ist.


noch immer ist informationsbeschaffung eine mühe, der man sich unterziehen muss, egal, wie verfügbar die quellen sind. trotzdem mag keiner zugeben, dass er sich dieser mühe nicht unterziehen wollte oder konnte. was ja keine schande ist. jeder trifft seine wahl, denke ich mir dann. und jedenfalls ist es mir lieber, wenn einer zugibt, dass er sich mit einer sache nicht auskennt, als die vielen betroffenheitsheimer, die so gar nicht betroffen sind.

Motto:

Meine Bilder kann man kaufen. Meine Texte und meine Meinung nicht. D-J

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